Kurzprosa


Mexiko

Von sieben mageren und sieben fetten Jahren erzählte der Pfarrer auf seiner Kanzel, und das Kind dachte sich dabei den Suppenkasper, wie er dick und feist in seinem kurzen Röckchen hüpfte, aber nach und nach dünner wurde, was Elsa, dem Kind, viel besser gefiel. Es sah sich die Deckenmalerei, die Wandbilder an, ließ die Heiligen und Engel, die blaugolden, rotgolden und grüngolden dargestellt waren, dicker und dünner werden wie den Suppenkasper und dann alle mit einem Regenschirm in der Hand in den Fluß fallen. Wie sie da paddelten und um Hilfe riefen, tauchte sie auf mit einem Floß und rettete den Erzengel Michael, dessen Flügel ganz naß geworden waren und das Jesuskind, weils so stumm war und mit nach oben gestreckten Händen sich in Wirbeln drehte. Dann wußte sie nicht mehr, was mit den anderen passierte, denn jetzt liefen Ministranten durch die Gänge, die Kollekte war angesagt. Mit Stangen, an denen Beutel wie große Teesiebe angebracht waren, holten die Jungen Münzen und einige wenige Scheine ein. Elsa wartete stets darauf, daß ein Geldstück durchfiel, vielleicht, weil es zu klein war. Das aber war bislang nur einmal geschehen, und Elsa hatte sich davon Pfefferminzbruch gekauft und ihn in die Sonne gelegt, was die Fliegen anlockte, die darauf kleine schwarze Flecken hinterließen.

Die Kirchgänger stehen beisammen und zählen auf, die zuhause geblieben sind. Viele nicht, die können an einer Hand abgezählt werden. Großer Gott, wer fehlt, liegt im Bett, krank. Anderes kann nicht sein, und so trennen sie sich in Köche und Esser.

Jeden Winkel kennt Elsa im Haus. Sie ist klein und fällt durch jede Luke, durch jedes Raster, fällt nicht auf. Vater unser, betet sie, ich möchte so gerne Locken haben und eine Puppe, die die Augen schließt, wenn ich sie neben mich lege. Und bitte, lieber Gott, ich möchte nach Mexiko.

Knechte und Mägde sagt man zu den Bediensteten. Der Sepp ist Knecht und Leni eine Magd. Großvater ruft Leni nach dem Essen zu sich ins Zimmer, und Großvater ruft nur einmal.

Fünf Brüder hat Elsa, alle sind sie älter. Konrad arbeitet mit in der Holzhandlung vom Großvater. Sie mag ihn am liebsten, ihren ersten Bruder nennt sie ihn, aber er ist der Drittgeborene. Vor Konrad kam Gregor zur Welt und davor Lukas. Daß Gregor ins Stift ging, Pfarrer werden sollte, war Großmutters, wie sie es immer nannte, „Einziger Wunsch.“ Sie hatte viele „Einzige Wünsche“ und brachte diese jeweils bei Tischgebeten vor, was Elsa zum Anlaß nahm, solche „Einzigen Wünsche“ auf Kärtchen zu schreiben und nach Stichworten zu sortieren. Der Einfachheit halber notierte sie nur das wesentliche Kernstück der Wünsche wie „Gesundheit“ oder „Saubere Fingernägel“ auf und ließ Konrad vor jeder Mahlzeit erraten, um welchen einzigen Wunsch es sich an diesem Abend handeln würde. Hatte ihr Lieblingsbruder richtig geraten, bekam er ihren Nachtisch. Konrad erriet immer häufiger den „Einzigen Wunsch“ der Großmutter, was, wie Elsa herausbekam, damit zusammenhing, daß er sich vor dem Aufdecken des Tisches zu ihr gesellte, um die Tagesstimmung zu erkunden. Er ging sogar so weit, der Großmutter Stichpunkte zu liefern, die sie aufnahm und prompt zu ihrem „Einzigen Wunsch“ formte. Elsa kam dahinter, als sie in einer Fensternische Servietten formte und das Gespräch zwischen Großmutter und Konrad verfolgte.

„Ist Gesundheit wichtig?“

„Ja, mein Junge, Gesundheit ist das Wichtigste überhaupt.“

Segne diese Speise und, lieber Gott, erhalte uns allen die Gesundheit. Das ist mein einziger Wunsch.

Danach steckte Elsa die Karten weg. Konrad lacht nur darüber und teilte ein Zeitlang seinen Nachtisch mit ihr.

Den Zwillingen, Peter und Paul, ging Elsa aus dem Weg, spielte nicht mit ihnen. Sie ängstige sich, weil beide nicht sprechen konnten, und Elsa deutete ihre Gebärden als Angriffe. Peter nahm sich, was er haben wollte, und gab einen Teil davon Paul.

Bei Leni lebten die Zwillinge, als sie Säuglinge waren, und auch dann noch, als sie über den Hof liefen und sich zwischen den Baumstämmen ihre Beute teilten. Leni hatte einen leichten Schlaf und sah über Jahre jede Nacht in ihre Betten. ‘Sie liegen und weinen vor Hunger, wir hören sie nicht. Wie können wir wissen, was sie brauchen, wenn keiner rufen kann?‘ Leni wurde ihre Stimme. Sie schläft bei ihnen und wurde selbst stumm dabei. Nickte zu Anweisungen, weinte lautlos bei jeder Rüge und schrieb auf einen kleinen Notizblock das wenige, das sie zu sagen hatte. Die Zwillinge wurden in die Stadt gebracht, kaum sechs Jahre alt. Doktor Rosen sprach mit Großvater, und dieser bezahlte für ein Jahr im voraus den Aufenthalt in einer Taubstummenschule.

Schattenspiel für vier Hände in Baumkronen. Keiner wußte, daß die Zwillinge dort saßen, auch Leni nicht. Die Bäume wurden gefällt und als Sepp die Zweige abschlug, fand er die beiden.

Wer hat Sepp gebracht. Abgegeben wurde er am Hintereingang des Hauses von zwei alten Frauen, die ihn auf Holzspänen gebettet hatten. Das ist Josef. Nehmt ihn gut auf. Gott bittet darum.

Großvater stopfte Mäuler. Mäuler von Gänsen, Schweinen, Pferden, Hunden und Katzen. Und Menschen. Müde Alte, Findelkinder wie Sepp, seinen Sohn, die jüngeren Schwestern, die Enkelkinder.

Elsa Rosa Amalias Zeigefinger lag auf dem Globus, inmitten von Mexiko. „Bitte, nähe mir einen Poncho, Großmutter. Ich werde nach Mexiko gehen.“

„Heute noch?“ fragte sie und lachte lautlos.

„Ja. Heute. Und ich werde Konrad bitten, mich zu begleiten.“

Natürlich, mein Kind. Großmutter verstand was vom Reisen. Sie hatte Pfahlbauten besucht, kannte jedes Kloster im Umkreis und nebenbei Amerika. Dort, sagt sie, leben ihre Eltern. Unsterblich wie Wurzeln. Briefe bekam Großmutter von ihren Eltern, nachts, wenn Elsa längst schlief, und zum Frühstück las sie der Enkelin vor, was in Amerika passiert war. Von Pferden, so schwarz wie die dunkelsten Kirschen, von zahnlosen Indianern und Höhlen, in denen Bären lebten, davon, daß es Seen gebe, auf denen mehr Schiffe schwammen, als je mit Großvaters Holz gebaut werden konnte. Jeder Brief war eine Aufzählung, nichts, was in Amerika nicht größer, nicht geheimnisvoller war.

Elsa aber wollte nach Mexiko.

Lukas blieb beim Militär. Selten kam er zu Besuch, und nie blieb er länger als einen Tag. Elsa schenkte er Zinnsoldaten und kleine Kanonen, in die sie kleine Kieselsteine steckte und damit auf Kühe schoß, deren einzige Reaktion war, daß sie mit dem Schwanz schlugen, als wollten sie Fliegen verscheuchen. Wenn Lukas wieder ging, brach Elsa einem Zinnsoldaten den Kopf ab und ließ ihn in einem Löffel über dem offenen Herdfeuer schmelzen, schüttete danach die flüssige Masse in das Putzwasser; sah nie auf den Klumpen, der sich dort gebildet hatte.

Kälte ist da, wenn Großvater vom Krieg erzählt. Elsa holt dann ihre Decke, zeltet darin. Schlägt ihre Beine unter und schaut auf Großvaters Bart, ein mächtiges, rotes Gestrüpp, das in die Nase wächst, mit Bartenden, die hüpfen und winken. Tastet der Alte über sein Gesicht, sind die Narben da, und an manchen Tagen drücken sich Splitter aus dem Kinn, Splitter, die er sammelt im Kästchen, neben dem Wehrpaß. Der Großvater erzählt seine Geschichte, wenn Elsa schläft. Erzählt von Ratten, die sie begleiteten, von Regenwürmern in den Gräben und von einem Hund, den er auf den Namen Tundra getauft hatte. Von drei alten Frauen, die er durchs Fenster sah, und von denen er süßen Maiskuchen bekam, weil er ihr Haus nicht abbrennen ließ. Elsa schlief, wenn Großvater seine Geschichte erzählte. Er weinte und trommelte, schlug auf den Tisch und rannte durchs Zimmer. Elsa im Zelt träumt von Mexiko, als Großmutter zurückkam und sie zu Bett brachte.

Als Konrad seine Braut ins Haus bringt, wird Elsa erwachsen. Sie ist 17 Jahre schon, ein kleines Bündel Frau und nie zu finden. Trägt keine Kleider und Schürzen, nur Hosen aus Baumwolle, darüber einen Poncho. Peter und Paul, die ihr angst machten, waren Zwillingssteine. Gregors Hände teilten sich den Dürerplatz am Hausaltar. Und Lukas blies schon mal die Trompete des Soldaten, der um Engel bat.

Wer war Vater, wer Mutter dieser Kinder. Ihr Tod erzählt viele Geschichten. Der Flug ist eine davon, und die hat Lukas erzählt. Vater, sagt er den Geschwistern, war der beste Pilot, den die Staffel kannte. Er holte jeden Zeiger von der Kirchturmuhr und drehte den Hahn dort oben, wie es kein Gewitter vermochte. Lachend hing er in den Wolken, und wäre er zurückgekommen, könnten wir Orden zählen wie Großvaters Bäume. Und die Mutter? Lukas zuckte nur mit den Schultern, eine Frau, eine Mutter, hatte keinen Winkel in seinem Wissen.

Wurde Leni befragt, von den Kindern bedrängt, wischte sie sich die Augen, ging aus dem Zimmer, entfernte sich vom Gemüsebeet, lief weg, wo immer ihr Fragen gestellt wurden. Sepp wird es euch sagen, ja, fragt den Sepp.

Eure Eltern, sagt Sepp und zieht heftig an der großen, weißen Pfeife mit dem Kopf aus Porzellan, weilen nicht mehr unter uns. Gott sei ihrer Seele gnädig.

Wo sie dann weilen, will Elsa wissen. Konrad und die anderen Jungen sind schon aufgestanden. Sepp würde, das wußten sie, nichts mehr sagen, vielleicht noch den Kopf schütteln, seufzen dabei.

Jeder kannte die Fragen, jeder die Antworten.

Auch Gregor, der vierzehn Jahre alt war, als er ins Stift ging. Kam er nach Hause, in den Ferien, mußte Elsa bei ihm die Beichte ablegen, drohte er mit Schlägen, wenn sie stockte oder nach Konrad rief. Was sie ihm beichtete, schrieb er auf mit schwarzer Tinte und es wurde erst dann gestrichen, wenn das Mädchen Wein vom Großvater stahl und ihn Gregor brachte. Du bist eine Diebin, sagte Gregor, wir müssen dich dafür bestrafen. Sie weint, aber Gregor läßt die Hand sausen, bis Schenkel und Po rot sind wie sein Gesicht. Wenn du mit einem darüber sprichst, sagt Gregor, wirst du uns sagen müssen, wo Vater und Mutter sind, denn du bist die Jüngste und keiner nach dir hat sie gesehen.

Noch betet Elsa, daß Gregor im Stift bleibt, keine Ferien ihm erlauben, ins Haus zu kommen. Er ist da, in jedem Sommer.

Leni geht nach dem Tod der Zwillinge nicht mehr in Großvaters Stube. Grau wird ihr Haar und ihr Gesicht, und sprechen will sie auch weiterhin mit keinem. Was sie arbeitet in Küche und Hof ist tüchtig, sie ist die erste, die Feuer macht, die letzte, die es löscht. So eine schickt man nicht weg, sie wird bleiben, bis die letzte Wäsche gewaschen ist. Leni liebt die Kinder, und diese mögen sie. Wenn sie auch nichts sagt, sprechen ihre Hände und ihr Backwerk. Sie ist der Großmutter zugetan, und diese lächelt, denn längst schon bewohnt sie ein eigenes Zimmer, da bewahrt sie ihre Briefe auf und läßt die Nähmaschine rattern für den Poncho von Elsa. Nachts besucht Leni die Großmutter, da zünden sie Kerzen an und lesen in den Flammen ihre Geschichte.

Elsa ist siebzehn, da bringt Konrad seine junge Frau ins Haus. Keiner legt die Arbeit beiseite, auch nicht der junge Mann, der seine Braut in Großmutters Zimmer schickt.

Wo ist Elsa, fragt man am Abend und bis in die Nacht wird gesucht in jedem Winkel des Hauses. Der Poncho ist da und auch der Globus, es fehlt kein Geld, nicht ein Papier, aber Großmutter sagt, Elsa ist in Mexiko.

 

aus: Der Rosenhain und andere Erzählungen. Dillmann Verlag 1995.