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Aus Erinnerungen werden Figuren - Bericht in der Stuttgarter Zeitung 05.10.2010
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Eröffnungsrede der Kunstausstellung am 25.11.02 im Landratsamt Ludwigsburg 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Fragen, die das Dreigestirn bestehend aus Kunst, Wissenschaft, und Natur betreffen, haben mich immer interessiert. Wie ein Sternbild umschließen die drei Gestirne Kunst, Wissenschaft und Natur die Gesellschaften seit alters her, verschiedene Zeitalter berichten von unterschiedlich hellen Sternen. Heute strahlt der Stern der Kunst schwächer. Was bedeutet sie, die Kunst, uns noch, wenn an den Eckpunkten Wissenschaft und Natur ganze Galaxien von Erkenntnissen aufgehen, während die Kraft der alten Sonnen der Künste langsam zu verglühen scheinen?

 

In der Wissenschaftslehre von Karl R. Popper fand ich für diese Überlegungen folgende Ideen, Wissenschaft und Natur betreffend: Was, so fragt Popper, ist der entscheidende Unterschied zwischen einer Amöbe und einem großen Wissenschaftler wie Newton oder Einstein? Anders formuliert heißt dies: was ist der entscheidende Unterschied zwischen Natur und Wissenschaft? Die Antwort des Philosophen Popper darauf lautet: Der Unterschied liegt in der bewussten Anwendung der kritischen Methode bei der Elimination der Irrtümer, die bei der Erforschung und Deutung der Welt auftreten. Dies bedeutet nicht anderes, als dass die Wissenschaft einmal aufgestellte Hypothesen wie z.B. Newtons Gravitationstheorie überprüft und gegebenenfalls ändert. Die Natur dagegen flieht der Kritik, entweder die Anpassung einer Art gelingt, oder die Art stirbt. In der Wissenschaftswelt sterben die Hypothesen, nicht der Wissenschaftler. Die Theorien, die wir heute kennen, sind für uns Zeitgenossen, so formuliert Popper, die jeweils bestmögliche Annäherung an die Wahrheit. Die Theorien, die wir heute kennen, sind nichts als noch nicht erkannte Irrtümer, so formuliert Einstein. Er ersetzte Newton Theoreme und auch seine Theorie steht seit jeher im Kreuzfeuer der Kritik. Aber die kritische Methode gilt nicht nur für die Wissenschaft. Diesen Gedanken erklärt Popper anhand folgenden Beispiels: Zwischen dem gedachten, aber unausgesprochenen Satz: „Heute wird es regnen“ zu demselben, nun aber ausgesprochenen Satz: „Heute wird es regnen“ scheint nur ein kleiner Schritt zu liegen. In Wahrheit aber sei dies, so Popper ein ungemein wichtiger, ein fundamentaler Schritt, ein „Schritt über den Abgrund“. Warum?

 

Stellen Sie sich doch bitte vor, ihr Sitznachbar hätte heute Morgen diesen Satz gedacht. Die Konsequenz seines Gedankens hätte dann zum Beispiel sein können: Ich ziehe mich regenfest an, oder: ich nehme auf jeden Fall einen Regenschirm mit. Stellen sie sich bitte weiterhin vor, sie hätten gerade diesen Sitznachbarn heute Morgen getroffen und er hätte zu ihnen gesagt: „Heute wird es regnen“. Der Unterschied erscheint auf den ersten Blick unwichtig, ist aber für die Gestaltung unserer Wirklichkeit fundamental. Denn die sprachliche Formulierung bedeutet, dass „was zuvor Teil einer Persönlichkeit, einer Erwartung und vielleicht Befürchtung war, nunmehr objektiv vorliegt und damit der allgemein kritischen Diskussion zugänglich wird.“ Auch für den, der spricht, ergibt sich ein großer Unterschied: Durch die sprachliche Formulierung wird die Voraussage von seiner Person abgelöst. Sie wird damit unabhängig von Stimmungen, Hoffnungen und Befürchtungen. Sie ist objektiviert, das heißt, sie kann von anderen, aber auch von ihm selbst versuchsweise bejaht, aber auch versuchsweise verneint werden. Dies ist der Vorteil. Andererseits sieht sich der Mensch in dauerndem Widerstreit: Das reine Denken, der subjektive Prozess also, führt zu Vermutungen und Befürchtungen. Unsere Äußerungen dagegen, die Objektivierungen, unterliegen der permanenten Gefahr der Widerlegung. Falls es nicht regen würde, könnten sie zum Beispiel zu ihrem Nachbarn sagen: Sie haben sich geirrt und auf Grund ihrer These bin ich jetzt viel zu warm gekleidet. Ob nun Einstein Newton berichtigt, oder der oder jener uns selbst: was für die Geschichte der Menschheit ein Vorteil zu sein scheint, die Frage der Annäherung an die Wirklichkeit – an die Wahrheit -  ist für uns, und so empfinden wir es auch, permanente Auseinandersetzung.

 

Dieser Auseinandersetzung, meine Damen und Herren, zumindest teilweise zu entgehen, kann, von außen her betrachtet, eine Begründung für Kunstgenuss, ja vielleicht sogar für die Notwendigkeit von Kunst sein. Aber Kunst fällt auch bei innerer Betrachtung aus diesem System heraus: Das verwundert vielleicht, denn gerade Künstler konzipieren, wägen ab, durchlaufen also den subjektiven Prozess und objektivieren schließlich, indem sie ein Werk schaffen. Im Gegensatz zur Wirklichkeit aber besteht ein gravierender Unterschied, der sofort einleuchtet, wenn man Poppers Beispielsatz für die Kunst betrachtet: Denn was bedeutet der Satz „Heute wird es regnen“ wenn er in einem literarischen Text auftaucht? Und macht dieser Satz bei bildenden Künstlern bei der Konzeption und Ausführung eines Bildes überhaupt Sinn?

 

Wenn wir, um ein Beispiel zu benutzen, in einem Kriminalroman die besorgte weibliche Hauptfigur zu ihrem Mann sagen hören „Heute wird es regnen“, vermuten wir als gewiefte Leser sofort, dass die Strasse gefährlich rutschig sein wird und der Wagen sich überschlägt. Der Fahrer hat bei solchen, vom Autor vorgegebenen Bedingungen, meist nur einen kurzen Auftritt. Regen ist auf diesem Fall ein Symbol. Ein Symbol zum Beispiel für Gefahr oder Trauer. Für den Satz „Heute wird es regnen“ bedeutet das, dass er innerhalb des literarischen Textes vom Autor ein Funktion zugewiesen bekommt, die er erfüllen wird und muss. Anders als in der Wirklichkeit gibt es dabei keine Distanz zwischen Aussage und Phänomen, die nachgeprüft werden kann. Es existiert lediglich die Distanz der Buchseiten, bis das gewünschte Geschehen beschrieben werden wird. So aber kann sich eine Aussage in einem literarischen Text nie als falsch erweisen, denn nicht die Wirklichkeit mit ihren Hoch- und Tiefdruckgebieten und dem berühmten „Schmetterlingsschlag“ macht den Regen, sondern der Wille des Autors.

Betrachtet man dies genauer, so hat in literarischen Texten jeder Satz, ja eigentlich jedes Wort, eine innere Notwendigkeit, damit eine Funktion und somit einen Sinn innerhalb des Werkes. Dies gilt auch für Autoren, die sich explizit gegen „sinnvolle“ Sätze wenden, wie im Extremfall die Dadaisten, die dieses Spiel auf die Spitze trieben, indem sie nur mehr „sinnlose“ Silben aufs Papier brachten. Denn  n u r „sinnloses“ macht, will man Sinnlosigkeit darstellen, einen Sinn. Ein literarischer Text weist somit automatisch jeder Aussage eine Wahrheit zu. Wenn zuvor gesagt wurde, die Natur fliehe vor der Kritik, die Wissenschaft dagegen versuche durch pausenlose Annäherungen der Theorien der Wirklichkeit, der Wahrheit, näher zu kommen, so gilt für die Literatur: Sie ahmt die Wirklichkeit im Prozess des Denkens und Objektivierens nach, ohne das Problem der Annäherung an die Wahrheit berücksichtigen zu müssen. Sie erschafft sich eine zweite Welt, eine fiktionale Welt, in der Wahrheit zweifelsfrei existiert. Dies gilt auch für Werke, die in ihrem gesamten Gehalt heute nicht mehr gelten können. Nehmen wir ein mittelalterliches Buch: Nicht der inneren Welt des Buches fehlt es an Wahrheit. Wie sich zum Beispiel der Ritter auf den Drachenkampf vorbereitet, behält fraglos seine Gültigkeit, nur: Uns fehlt der Glauben an den Drachen. Die literarischen Welten aber, die wir weiterhin schätzen, wie z.B. die psychische Welt Kafkas oder die Beschreibung der Moderne in Döblins Berlin Alexanderplatz, behalten für uns auch als Gesamtwerk ihre Wahrheitscharakter.

  

Wie verhält sich dasselbe Problem bei der Bildenden Kunst?

Hier wird zunächst deutlich, was Lessing in seinem berühmten Laokoon-Aufsätzen formuliert hat. Er weist der bildenden Kunst die „unlebendige (d.i. unbewegliche) Nachahmung des Natürlichen zu. Schönheit in Bewegung, so schreibt Lessing, ist dem Maler weniger bequem als dem Dichter. Der Maler, meine Damen und Herren, kann die Bewegung nur erraten lassen, in der Tat aber sind seine Figuren ohne Bewegung. Die Malerei kann die natürlichen Mittel ihrer Nachahmung nur im Raume verbinden, was bedingt, dass sie der Zeit gänzlich entsagen muss“. Ein Problem also wie der Satz „Heute wird es regnen“ macht für Bildende Künstler deshalb überhaupt keinen Sinn, weil die zeitliche Dimensionen fehlen. So gilt wohl noch immer Goethes Idee, dass die Bildende Kunst den schwebenden Übergang eines Zustandes in einen anderen darstellt. „Ein Bild oder eine Plastik sei „ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblick, da sie gegen das Ufer anströmt.“ Man wird also versuchen den nahenden Regen mit dicken Wolkentürmen, herumwirbelnden Blättern oder ähnlichem auszudrücken. Aber auch für die bildende Kunst wird offensichtlich, dass der Betrachter nicht im Strudel der Wirklichkeitsanpassung versinkt sondern gelassen die Auseinandersetzung, die ihm das Werk schildert, betrachten kann. Nehmen wir ein Gemälde Turners oder Monets. Nichts, was gemalt worden ist existiert noch, nicht die Häuser, die Seerosen, nicht der abgebildete Mensch. Nur das Bild hat die Zeit überlebt und mit ihm der Eindruck, den es auf die Betrachter hat. Solange es als Gesamtkunstwerk den Zeitgenossen eine Wirkung vermitteln kann, wird es in Museen ausgestellt sein. Diese Wirkung nun will ich mit dem Begriff des: Heraustreten des Betrachters aus der Zeit im Sinne Herdes beschreiben: Das Verharren des Ästhetischen im Werk, im Entrücksein aus der Zeit, ist die eigentliche Substanz der bildenden Kunst: „die also ihren Augenblick so schön machen muss, dass die Seele, in Betrachtung desselben versunken, gleichsam ruhe und das Maß der vorübergehenden Zeit verliere.

 

So ist den Künsten etwas Fundamentales gemeinsam: Sie führen uns Menschen aus dem Konflikt heraus, der sich bei der täglichen Wirklichkeitserfahrung ergibt: Denn wir müssen jede Entscheidung bedenken, prognostizieren und schließlich in ihrer Wahrheit für unsere  Wirklichkeit testen, ohne jemals endgültig an die Wirklichkeit heran zu kommen. Die Kunst dagegen ermöglicht uns statt immerwährender Unsicherheit den Eintritt in eine ruhige und sichere Betrachtung der Existenz. Denn das Land der Ästhetik kennt solange man es bereist, keine Suche nach Wahrheit, hier übernehmen die Protagonisten diese Aufgabe. Wir aber sind sicher, die Wahrheit zu kennen, lehnen uns zurück und sehen gelassen zu. Der Mensch tritt aus dem Leben heraus und betrachtet. Das erklärt vielleicht, warum wir auch in aufgeklärten Zeiten noch immer Kunst rezipieren und uns in fiktionale Räume entführen lassen. Denn in der Kunst und nur in der Kunst finden wir Sicherheit, auch wenn wir wissen, dass sie mit dem Zuklappen des Buches und dem Verlassen des Museums wieder verschwinden wird und uns die Wirklichkeit wieder einholt.

© Claire Beyer 

Hotzenplotzs' Vater zum 85. Geburtstag

Bücher sind Mitbewohner und manche müssen nur lange genug im Regal stehen um von Kindern zu neuem Leben erweckt zu werden. Otfried Preußlers Erzählungen und Romane sind eben solche. Seine Figuren haben sich in unser Leben geschlichen und gehören zu fast jeder Familie Wer kennt sie nicht, die Kleine Hexe, den Räuber Hotzenplotz, oder das Kleine Gespenst. Fairy tales, Feengeschichten, nennt man in England Märchen. Und Feengeschichten sind auch Otfried Preußlers Erzählungen. In ihnen ist, wie der Literaturwissenschaftler André Jolles formuliert, das Wunderbare nicht wunderbar, sondern selbstverständlich. Die Kleine Hexe, die einen Wirbelwind herbeizaubert, damit das Holz von den Bäumen fällt und aufgesammelt werden kann oder die Verwandlung des Räubers Hotzenplotz in einen anständigen Bürger. Für Otfried Preußlers Bücher gilt, dass es in seinen Erzählungen so zugeht, wie es unserem Empfinden nach in der Welt zugehen müsste. Und so freuen wir uns, dass er, der heuer seinen 85. Geburtstag feiert, in diesem Jahr eine weitere Verfilmung seiner berühmten Geschichten als Ehrengabe bekommt: Krabat, sein geheimnisvolles Buch um den elternlosen Müllerburschen wird vom Regisseur Marco Kreuzpaintner („Die Wolke“) mit David Kross („Knallhart“) in der Titelrolle verfilmt. Dass es ausgerechnet die Geschichte ist, mit der Preußler sich nach eigenem Bekunden sein ganzes Leben lang auseinandergesetzt hat, hält er für glückliche Fügung. Und so kann der Filmstart gar nicht anders als kurz vor seinem Geburtstag im Oktober dieses Jahres angesetzt sein.

Es ist ein weiter Weg, den der am 20.10. 1923 im nordböhmischen Reichenberg geborene Otfried Preußler zurückgelegt hat. Als Kind kam er dort zum ersten Mal mit den Figuren und Erzählungen seiner böhmischen Heimat in Berührung. Zusammen mit seinem Vater, einem Lehrer und Heimatforscher saß er in den Stuben der Leute und hörte – als eine Art zweite Gebrüder Grimm –  ihren Geschichten von Zauberern, Hexen, Wassermännern und Gespenstern zu. „Das Geschichtenbuch meiner Großmutter Dora aber, das es in Wirklichkeit überhaupt nicht gegeben hat, ist das wichtigste aller Bücher für mich, mit denen ich je im Leben Bekanntschaft gemacht habe.“

Preußler beginnt nach dem zweiten Weltkrieg sechsundzwanzigjährig ein Studium zum Lehrer. Und als wäre es ein erster Hinweis auf sein späteres Wirken, lebt er mit seiner Frau und seinen drei Töchtern am Rübezahlweg. Um für den Unterhalt der wachsenden Familie zu sorgen, arbeitet er neben dem Studium als Lokalreporter und schreibt schon damals Geschichten für den Kinderfunk. 1956 dann gelingt ihm mit dem Kleinen Wassermann der erste große literarische Erfolg.

Wie er berichtet, entstanden viele seiner Stücke aus rein praktischen Gründen. Damit seine Töchter besser einschlafen konnten, erzählte er ihnen Gute-Nacht-Geschichten. Aus einem solchen abendlichen Ritual entstand 1957 die Kleine Hexe, die, wie er auf seiner Homepage äußert, „allen Kindern plausibel erklärt, warum man sich vor bösen Hexen nicht mehr zu fürchten braucht.“ Im Gegensatz zu Volksmärchen, in denen die Protagonisten dem Geschehen einfach ausgesetzt sind, erschafft Preußler aber handelnde Figuren. Während Aschenputtel nichts zu ihrer Errettung tun kann, als auf das – vom Leser - sicher erhoffte gute Ende zu warten, zeigt Preußler seinen Töchtern, dass Gutes von „der Entscheidung Gutes zu tun“ abhängt. Und nebenbei zeigt er damit, dass das Gute nicht einmal mehr im Märchen selbstverständlich eintritt. Preußler hat seinen Stil gefunden und es folgen produktive Jahre, der Räuber Hotzenplotz und das Kleine Gespenst kommen, neben anderen, den ersten Erfolgen hinzu.

1971 dann beendet er den Roman um den sorbischen Zauberlehrling Krabat. Es ist kein reines Kinderbuch mehr, Preußler selbst sagt darüber: „Es ist die Geschichte eines jungen Menschen, der sich mit finsteren Mächten einlässt, von denen er fasziniert ist, bis er erkennt, worauf er sich da eingelassen hat. Es ist zugleich meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation, und es ist die Geschichte aller jungen Leute, die mit Macht in Berührung kommen und sich darin verstricken“.

Krabat, der elternlose vierzehnjährige Betteljunge, träumt dreimal den gleichen Traum. In ihm wird er aufgefordert in die Schwarzkollmer Mühle zu kommen. Schließlich gibt er seiner Neugier nach. Vom Müller in die Schar der elf Müllerburschen aufgenommen, wird er drei Monate später Schüler der „Schwarze Schule.“ Dort lernt er das Zaubern. Als aber an jedem letzten Tag des Jahres einer der Gesellen auf mysteriöse Weise stirbt und durch einen neuen Lehrjungen ersetzt wird, bemerkt Krabat erschreckt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Er bringt in Erfahrung, dass der Müller einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Um die Spannung des Films „Krabat“ zu erhalten, kann hier keine Interpretation folgen. Die Gemeinsamkeit zu andern erfolgreichen Jugendbüchern aber liegt darin, dass für Kinder eine zweite Welt geschaffen wird, in der das Handeln der Figuren über Gut und Böse, Glück und Unglück entscheidet. Während in der Märchenzeit der Gebrüder Grimm die zweite, die poetische Welt, als gesichert galt – und sei es erst nach dem Tod – zweifelt der moderne Leser daran. Da er seine Zweifel an die Kinder weitergibt, glauben nur noch sehr junge Märchenhörer an die wie selbstverständlich eintretende Gerechtigkeit der Märchenerzählungen. Sie aber ist das Geheimnis der Volksmärchen.

Nun war auch in der Vorzeit niemand so naiv, sie für bare Münze zu nehmen. Nicht umsonst spielen alle Geschichten „hinter den sieben Bergen“, weit von der Wirklichkeit entfernt also. Und um noch einmal Jolles zu zitieren: „Die (Märchen-) Figuren müssen jene unbestimmte Sicherheit besitzen, an der die wirkliche Welt zerschellt. Wenn der Prinz im Märchen den Namen eines historischen Prinzen trüge, würden wir nicht fragen: Und was geschah mit dem Prinzen? Sondern wir würden fragen: Was tat der Prinz?“ Gerade diese Fragen aber stellt Preußler im Krabat. Die Verführung lässt er der (transzendenten) zweiten Welt, ob sich Krabat aber verführen lässt, liegt an ihm selbst. Diese moralische Idee gibt den Kindern die Möglichkeit, durch eigene Entscheidungen ihr Glück zu erlangen. Kinder erkennen, dass sie die vorgefundenen Welt beeinflussen können. Denn die Erfahrung von Kindern ist oftmals, der Erwachsenenwelt ohnmächtig ausliefert zu sein. Sie wünschen sich nichts sehnlicher als den Zauberstab des Petrusilius Zwackelmann, um ihre Ohnmacht wegzaubern zu können. Neben dem Einfallsreichtum der Geschichten ist dieses Gespür der kindlichen Ohnmacht sicher der wichtigste Schlüssel zum weltweiten Erfolg. Die heute vorherrschende magische Anziehungskraft, die das Internet auf Jugendliche hat, erklärt sich entsprechend. Mit einem Klick die ganze Welt beherrschen. Daten, Fakten und vorgefertigte Hausaufgaben zu finden gibt ein Gefühl von Macht, die der Ohnmacht der Wirklichkeitserfahrung diametral entgegensteht. Nur, und das nun unterscheidet das oben aufgeführte von Ortfried Preußler: Das Internet ist nur Illusion, Fiktion, virtuelle Wirklichkeit. Preußler hingegen weckt die Kraft seiner Leser, der wirklichen Welt begegnen zu können. Dazu benutzt er für Kinder verständliche Alltagssymbole, wie die Kaffeemühle, die Hotzenplotz der Großmutter raubt. Und er scheut sich auch nicht davor, seine Figuren der Erfahrung des Scheiterns auszusetzen. Er kennt sowohl die Angst der Kinder vor dunklen Zimmern als auch die helle Antwort der Vernunft. Er zeigt die Verführbarkeit der Menschen zu Macht und den harten Kampf, der gefochten werden muss, dieser Verführbarkeit zu widerstehen. Denn die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ist das spannendste Abenteuer, dem sich Kinder stellen können. Otfried Preußler gebührt der Dank, Kinder und Jugendliche auf diesem Weg zu begleiten. Ich wünsche ihm ein gutes, gesundes neues Lebensjahr und seinem Film Krabat einen großen Erfolg.

 

Stuttgarter Zeitung im Oktober 2008 Autoren: © Claire Beyer/Horst Dillmann

 

 

Vortrag von Steffen Pross anlässlich „Literarisches Kolloquium Stadt Ludwigsburg“

 

Geheimnis und Gewalt.

Anmerkungen zur Prosa Claire Beyers

Leben, Werk und Wirkung eines Schriftstellers, einer Schriftstellerin auf ein paar Seiten abhandeln zu wollen, ist, wie Sie alle wissen, ein übermütiges Unterfangen. Nähme man es ganz ernst, man wäre vermessen oder naiv. Die Sache kompliziert sich, wenn man  eine Autorin vor sich hat, die noch lebt und schreibt. Den Blick aufs „Leben“ hindert die gebotene Achtung vor der Privatsphäre – eine Diskretion, die sich nachgeborene Dichterbiografen ersparen. Was wüssten wir nicht über Goethes Liebesleben oder Kafkas Krankheiten an Leib und Seele? Auch das Werk ist, da unabgeschlossen, nicht konturenscharf abgrenzbar, allemal steht ein neues Buch nicht nur für sich, sondern wirft auch Licht auf die älteren. Womit wir bereits bei den Tücken der Rezeptionsgeschichte wären: Direkte literarische Einflüsse eines Autors, einer Autorin auf schreibende Zeitgenossen wird der lesende Zeitgenosse nur in seltenen Fällen ermessen können, sofern es sich nicht um einen dezidiert in „Schulen“ oder literarischen Gruppen agierenden Schriftsteller handelt. Und da die Wirkungsgeschichte der Gegenwart ohnehin noch im Potentialis steht, bleibt der Erfolg bei Publikum und Kritik, in Bestellerlisten und Rezensionen der wohl verlässlichste Gradmesser.

 

Wendet man ihn auf Claire Beyer an, so zeigt sich, dass wir es bei ihr mit mindestens drei Autorinnen zu tun haben. Die erste, die der bürgerlichen Person Claire Beyer am nächsten stehen dürfte, schrieb drei Jahrzehnte lang Lyrik und Kurzprosa, sie verfasste ein mehrfach aufgeführtes, aber bislang ungedrucktes Musical über die Bildhauerin Camille Claudel, ihre Arbeiten erschienen in Anthologien und im kleinen Dillmann-Verlag in Schwieberdingen, sie fanden die Hochachtung von Kollegen, aber wenige Leser. Die zweite Claire Beyer wurde gezeugt, als diese erste Autorin gleichen Namens zum Stuttgarter Lese-Marathon eingeladen wurde, fand, dass ihre Gedichte nicht für die geforderte Stunde reichten und ihre erste Erzählung, die Kurzgeschichte Der Rosenhain schrieb. Die Wehen setzten 1995 ein, als der erste Band mit Erzählungen Claire Beyers erschien, die im Nachhinein durchaus als Fingerübungen gewertet werden können. Im Herbst 2000 schlug dann die Geburtsstunde dieser zweiten Autorin, der Erzählerin Claire Beyer, mit dem so gewaltigen wie unvorhersehbaren Erfolg ihres in der renommierten Frankfurter Verlagsanstalt erschienenen Debütromans Rauken. Seither gilt diese Claire Beyer als – ich zitiere den Literaturkritiker Hubert Spiegel –  „eine der stärksten und eigenwilligsten Autorinnen der Gegenwart“. Sie ist eine öffentliche Person, in Fernsehen, Rundfunk und Presse ebenso präsent wie in Schulen, Bibliotheken und germanistischen Seminaren. Schließlich gibt es, mindestens, noch die unveröffentlichte Claire Beyer, von der wir nur wissen, dass sie weiterhin Lyrik schreibt und derzeit an gleich zwei weiteren Prosabänden arbeitet. Ich werde mich hier ganz auf die zweite Autorin, also auf die bedeutende Erzählerin Claire Beyer, konzentrieren, zunächst aber kurz ihre Vita – das Leben – streifen. Bemerkungen zur Rezeption werden sich bei der Betrachtung der bisher erschienenen Erzählwerke automatisch ergeben.

 

Claire Beyer wurde am 13. Juli 1947 in Blaichach, einem Dorf  im Oberallgäu, geboren, seit 1990 lebt sie in Markgröningen.. „Mit Zehn zählte ich zu den Weitgereisten in meinem kleinen Umfeld“, heißt es auf ihrer Homepage, denn: „Ich las. Natürlich alles über Albert Schweitzer und Lambarene, über Fritjof Nansen, auch Jack London gehörte zu meinen Lese-Weggefährten.“ Der Lebenslauf, den Claire Beyer ihren Lesern im Internet mitteilt, ist, Sie bemerken das, selbst ein kleines Stück Literatur und beinhaltet Grundzüge einer Poetologie, die Grundsätzliches über das Literaturverständnis der Autorin verraten. Lyrik, heißt es dort, „entdeckte ich nicht über die Klassiker, es waren AutorInnen wie Rose Ausländer, Paul Celan, Pablo Neruda, Anäis Nin, um nur einige zu nennen. Der Conrady wurde mein ständiger Begleiter. Auch und gerade nachdem ich die ersten Texte selbst verfasste. Gedichte“. Mit 20 Jahren wird Claire Beyer Mutter: „Inzwischen gab es doch ein Kind, ein Junge und mit ihm eine Familie. Schreiben nur, wenn alles erledigt ist. Lesen nur, wenn alles erledigt ist. Aber ein Kind ist ein Kind ist ein Kind. Und das hieß dann doch irgendwann: Vorlesen. Nicht über Albert Schweitzer und die andere Freunde meiner Kindheit, es waren die Wilden Kerle und Feuerwehrmänner, tapfer, und natürlich mutige Sprengmeister (…) Nie aufgehört, Gedichte in mir zu suchen und damit mehr und mehr Zeit dafür zu finden.“ 1978 stößt Claire Beyer zu der Autorengruppe Literateam: „Ein erstes Forum, eine Herausforderung. Zeigen, lesen, was da in vielen Nächten entstanden ist, Ermutigung und erste Veröffentlichungen in Anthologien. Gemeinsam mit Manfred Esser, Karl Krolow, Wolf Wondratschek, Hilde Domin und anderen. Zuspruch und Preise. Drei Jahrzehnte Gedicht um Gedicht. Einige wenige Kurzgeschichten, vielleicht auch Gedichte, die kein Ende finden wollten. Prosa, Erzählungen, ein langer Atem. Ich suchte nie den Weg dorthin. Schon eher suchte mich die Prosa (…) Die Rauken wuchsen Seite um Seite. Über sechs Jahre in jeder freien Minute. Frei hieß, die Arbeit getan zu haben. Ich lebte inzwischen alleine, tat meinen Job.“

 

Die Auslassungen in dieser kurzen Selbstschilderung sind so aufschlussreich wie die bekenntnishaften Sätze. „Der Job“ – Claire Beyer absolvierte nach der Mittleren Reife eine Banklehre, sie arbeitete als Bankkauffrau und als freie Mitarbeiterin eines Steuerbüros für verschiedene Firmen, bevor ihr der Erfolg von Rauken das Leben als freie Schriftstellerin ermöglichte – „der Job“ also wird erwähnt, mehr nicht. Ökonomie schafft die Lebensbasis, sichert die literarische Arbeit ab, bleibt ihr aber äußerlich, ohne  (wie etwa beim sechs Jahre jüngeren und ebenfalls in der Frankfurter Verlagsanstalt verlegten Ernst Wilhelm Händler) ihrerseits literarisches Interesse beanspruchen zu können. Auch Claire Beyers literarisches Personal hat „Jobs“, ist teils psychisch von seiner Arbeit geradezu absorbiert, doch bei der Arbeit sehen wir es nicht: Immer begegnen wir Claire Beyers Personen im Privatleben, oft sind sie in den Ferien, allenfalls lassen sie uns am Rand ihres Arbeitslebens stehen. Nur in den Rauken durchdringen die private, familiäre und die von ihr aus exemplarisch erschlossene, soziale Sphäre einander vollständig, sonst setzt erst eine Art Ferialexistenz die unter dem Deckel des Alltäglichen schlummernden Konflikte frei, an denen sich Claire Beyers Erzählkunst entzündet. Auch das Schreiben selbst erscheint in der vorliegenden, kleinen Selbstlebensbeschreibung keineswegs als Handwerk, sondern als ein gewissermaßen selbsttätiger, geradezu organischer Vorgang: Gedichte liegen in der Innerlichkeit der Person, können dort gesucht und in ihrer Entäußerung ans Licht gebracht, mitgeteilt werden. Nicht die Schriftstellerin Claire Beyer sucht den Weg zur Prosa, die Prosa sucht  – und findet – Claire Beyer: „Die Rauken wuchsen“ – als Erzählung geradeso wie das Kraut.

 

Nun ist die Rauke zwar als solche wohl nur Botanikern noch bekannt, während sie als  toskanische Rucola in unseren Küchen zu neuem Schick gelangte, die blaue Blume der Romantik jedoch ist sie nicht. Dennoch: Das Literaturverständnis, das sich hier ausdrückt, entstammt nicht dem 20. oder 21. Jahrhundert, es kommt von  weiter her, ist – unter dezidierter Ausblendung des Geniegedankens – romantisch wie das Sprachvertrauen, das Claire Beyers Schreiben trägt. Als ob es die Sprachzweifel und Sprachexperimente der klassischen Moderne nicht gegeben hätte, hält sie an der Weltmächtigkeit des Wortes fest, traut ihm zu, das Geheimnis des Lebens zu entschleiern, seinen Sinn zu bergen. Das freilich keineswegs naiv – die abenteuerlichen Guten, Helden wie Albert Schweitzer, Fritjof Nansen oder Jack London. sind Weggefährten der Kindheit, die an den Rand gedrückte Ökonomie behält durchaus ihre alltäglichen Rechte. Nur liegt es, wenn Claire Beyers Erzählungen über glücklose Glückssucher – und das sind eigentlich alle ihre Prosatexte – in der Sinnlosigkeit enden, nicht an der Ohnmacht der Sprache, sondern an der Fatalität des Seins, das die romantische Sehnsucht nach ästhetischer Erlösung konterkariert. Die Personen Claire Beyers tragen ihr Schicksal wie blinde Spiegel mit sich herum, in denen sich nicht einmal der schöne Schein noch bricht. Stets steht – darin ist sie, wie wir uns zu sagen angewöhnt haben, ein „Nachkriegskind“ – die Katastrophe des Zivilisationsbruchs im Hintergrund dieser Literatur, die sich Adornos Verdikt über die Lyrik nach Auschwitz in nachgerade altmodischer Moralität stellt: Claire Beyers Schreiben gehorcht einer romantischen Sehnsucht, wird aber angezogen vom weißen Licht und ist bis ins Mark desillusioniert. Das Ästhetische hat seine Unschuld verloren, es ist, als habe das romantisierende Erzählen Celan gelesen und sich, aus Angst vor Kitsch, an ihm verschluckt.

 

„Ich bin nicht identisch mit meinem Personal.“ Dieser Satz Claire Beyers mag für Germanisten eine Binsenweisheit sein, für Leser ist er durchaus keine Selbstverständlichkeit. Und so wird Claire Beyer, als sie ihn aussprach, vornehmlich an Vroni gedacht haben, jenes Mädchen, das – wie die Autorin – im Allgäu der Nachkriegsjahre geboren wurde und den Ort der Kindheit halbwüchsig verließ. Immer wieder halten Leser Vronis Geschichte für die ihre, weiß Claire Beyer, die es elfjährig mit ihren Eltern nicht nach München, sondern nach Möglingen verschlug, ihr Zuhause für 31 Jahre. „Ich bin nicht identisch mit meinem Personal.“ Dieser Satz formuliert eine für Schriftssteller existenzielle Unterscheidung – die von Leben und Text, auf der sowohl das Eigenrecht der Person als auch die Autonomie der Kunst beruhen. So wie Vroni ein literarisches „Kind“ Claire Beyers ist, so hat erst der Erfolg der Rauken, also Vronis Geschichte, jene zweite Autorin „gemacht“, von der hier die Rede ist.

 

Sprechen wir kurz über Zahlen: Vier Hardcover-Auflagen und eine Lizenz- sowie eine Taschenbuchausgabe in sechsstelliger Auflage, dazu eine Hörbuch-Vertonung mit Monica Bleibtreu haben die Rauken inzwischen erlebt. Sie sind ins Dänische und ins Französische übersetzt worden, nur sechs Jahre nach seinem Erscheinen liegen eine Zulassungs- und eine Diplomarbeit über das Buch vor. Ein für einen Erstling, zumal einer 53-jährigen Verfasserin, in der Tat erstaunlicher Erfolg, erst recht, wenn dieses „Debüt“, wie wir wissen, eigentlich gar kein Erstling ist und die Genrebezeichnung „Roman“ eher eine Marketingstrategie als korrekt.  Das wäre am ehesten der „neutrale“ Gattungsname Erzählung gewesen, den Claire Beyer übrigens selbst auf ihrer Homepage verwendet. Kurz gesagt: Als die Rauken im Herbst 2000 erschienen, waren sie ein Ereignis. Das Beste, was Autoren seit dem Rückzug Marcel Reich-Ranickis aus dem Fernsehen im Hinblick auf „den Markt“ passieren kann, geschah Claire Beyer: Sie wurde von Elke Heidenreich euphorisch besprochen. Doch auch die ernst zu nehmende Kritik reagierte begeistert: Martin Ebel pries das Bändchen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „einen nahezu makellosen Text“, dessen „fast unerträgliche“ Präzision Manuela Reichart in der Süddeutschen Zeitung lobte. „Dieses stilsichere Buch“, befand Friedhelm Rathjen in der Frankfurter Rundschau, sei „deshalb so erschütternd, weil die grundgütige Naivität, die uns der Erzählduktus weismachen will, vom erzählten Geschehen Satz für Satz negiert wird“.  Ihre „strenge Konzentration“ und die virtuosen „Aussparungen“ haben Elsbeth Pulver in der Neuen Zürcher Zeitung von einer Erzählung überzeugt, die „beschreibungssüchtigen Kollegen“ leicht zur „Horror- und Prügelgeschichte“ entglitten wäre. Denn, so der Spiegel: Das Büchlein mit der scheinbar schlichten Geschichte des Mädchens Vroni „beginnt mit dem Tod, und der Geruch von Tod und Zerstörung begleitet es durch seine 130 Seiten“.

 

Die ausgewählten Zitate greifen zwei Aspekte auf, die für wohl jede Auseinandersetzung mit den Rauken zentral bleiben werden. Erstens: Vronis ländliche Kindheit ist das Gegenteil einer Idylle, sie spielt sich in einer an die Gewalt ausgelieferten, dörflichen Welt ab, in deren Machtgefüge sich das Desaster der jüngst vergangenen, deutschen Katastrophe fortschreibt, in deren bäuerlich-kleinbürgerlicher Prägung sich die Brutalität fortzeugt von „Glied zu Glied“. Ich jedenfalls wüsste seit Georg K. Glasers 1951 erschienenem Bericht Geheimnis und Gewalt kein deutschsprachiges Buch, das die ungehemmt an einem Kinde exekutierte, patriarchalische Gewalt wieder so beklemmend geschildert hätte wie Claire Beyer. Die psychische Deformation ist in dieser Welt ubiquitär, eine sozial konstitutive Tatsache; der autokratische Großvater, der prügelnde Vater, die stumme Mutter bilden nicht nur ein familiäres Dreieck, an dem die drei Kinder vor die Hunde gehen, sie sind auch Agenten einer Gesellschaft, die skrupellos ausgrenzt, was sich ihr nicht blindlings fügt. Zweitens: Ihre geradezu unheimliche Suggestivität verdankt diese Geschichte einer nur scheinbar schlichten Erzählkunst, die sich sehenden Auges in Zonen wagt, in denen die Gefahr schierer Sentimentalität lauert – und sich dagegen durch die Tugenden der Knappheit, Kargheit und des Lakonismus’ wappnet. Die sprachliche Disziplin der Lyrikerin, die jedes überflüssige Wort vermeidet und stets konzise bleibt, zahlt sich hier ebenso aus wie der stringent lineare Erzählfortschritt und die strikte, zunächst ebenfalls „einfach“ wirkende Wahrung der personalen Erzählperspektive, die den Leser konsequent in Vronis Binnenwelt gefangen hält.

 

Bücher sind Wagnisse, und man wird Claire Beyer bei Betrachtung ihrer bisher erschienenen Erzählungen vor allem und immer wieder eines bescheinigen müssen: Courage, ja nahezu Wagemut. Denn nicht nur ästhetische Strenge und die in der Erzählung geschilderten, in ihr allgegenwärtigen Zwangs- und Gewaltverhältnisse machen die Rauken aus, sondern auch Vronis kleine Fluchten. Und die, eine weitere Trinität, sind allesamt eigentlich Garanten für zuckersüßen, klebrigen Kitsch – das kindliche Schwärmen für Pierre, den Klavier spielenden, verkrüppelten jüdischen Fabrikantensohn, die Momente der Geborgenheit durch Ivan, den im Dorf gebliebenen Kriegsgefangenen mit der großen russischen Seele, der heimliche Privatunterricht beim herzensguten Albert, dem ausgebombten und marginalisierten, früheren Lehrer. Doch Claire Beyer stürzt nicht ab: Die Klischees, in die sie den arglosen Leser lockt, hat sie längst unterminiert, die hilfreichen Gefährten, guten Feen und schönen Prinzen der Märchen haben sich in eine Welt verlaufen, in der sie machtlos sind. Ihren Verbündeten auf Zeit ist Vroni so zwar dankbar, doch Hoffnung schöpft sie – als kindlich-naive Erbin der romantischen Kunstreligion – nur aus einer imaginierten Gegenwelt: Nach der zweiten Vertreibung der Juden aus dem Dorf verschmelzen Pierres Bild, sein Klavierspiel und Mozart zum Traum einer ästhetischen Erlösung, die dem Mädchen verstellt bleiben muss. Weil sie nicht aus den familiären Zwangsverhältnissen ausbrechen kann, weil sie somit auch sozial in den „Verhältnissen“ festsitzt, weil keine wirklichen Brücken von der Seite der Täter hinüber zu den Überlebenden führen und weil Eskapismus nicht hilft, auch wenn er einem Kind wie Vroni ein Halt und daher erlaubt sein mag. Doch wo die Heilung durch Kunst nicht mehr gelingen kann, die Pistole bereits als letztes Mittel bereit liegt, hilft der Heldin ein „deus ex machina“: Das indianerhafte Ende mobilisiert, sozusagen als endgültige Verabschiedung des romantischen Kunstmärchens, noch einmal den archaischen Wunderglauben der Volksmärchen: „Der Splitter“, jener  Stachel des Bösen, der im kriegsversehrten Vater steckt,  „fällt ihn wie einen Baum“. Der Kapo ist eliminiert – doch die seelische Mondlandschaft der Nachkriegsjahre? „Und wenn sie nicht gestorben sind“, enden die Märchen.

 

Dass auch hinter Claire Beyers zweitem Prosaband ein romantisch inspiriertes Schreibprogramm steht, verrät schon der Titel: Rosenhain. Sechs Geschichten von fünf Sinnen. Als der Erzählungszyklus im Herbst 2003 erschien, brachen wenigstens wichtige Teile der Kritik mit der Regel, wonach aufs Lob für den Erstling ein Verriss zu folgen habe. Zwar murrten diesmal etwa NZZ und Frankfurter Rundschau, doch Hubert Spiegel stimmte in der FAZ die oben zitierte Eloge an und äußerte sich fasziniert davon, wie nah sich in diesen sechs Geschichten Sinnlichkeit und Grausamkeit kommen, „wie aus jedem einzelnen Sinn Obsessionen erwachsen können“. Und im WDR lobte Gerd Scobel eine erzählerische Tugend Claire Beyers, die viele Kritiker bereits an den Rauken so imponiert hatte: Dass sie es verstehe, „gleichzeitig zu erzählen und zu verschweigen. Ihre Sprache hat eine schwer zu erklärende, aber ins Herz dringende Tiefe. Claire Beyer beherrscht eine Kunst, in der sich andere vergebens üben: Sie kann nämlich zwischen den Zeilen schreiben (…)“.

Tatsächlich kommt auch das zweite Buch auf den ersten Blick handwerklich schlicht daher. Wiederum ist die Sprache prägnant, doch einfach, im gesprochen Wort verwurzelt. Die Konstruktion, besser noch: die Komposition von Rosenhain aber ist alles andere als einfach. Die ersten fünf Erzählungen sind je einem der klassischen fünf Sinne – Schmecken, Sehen, Riechen, Spüren, Hören – gewidmet, blättern nacheinander das ästhetische Vermögen des Menschen auf. Ihre Anordnung ist symmetrisch: Vier Liebesgeschichten gruppieren sich um die Titel gebende Erzählung als Zentrum, einer Fortschreibung jener ersten Kurzerzählung des Stuttgarter Lese-Marathons. Sinnlichkeit mündet hier, im Angelpunkt der fünf Gefühls-Geschichten, in nackte Gewalt, die bereits auf dem Grund der vier Liebes- oder Paargeschichten schlummerte: Mehr noch als von der Liebe erzählen sie von ihrem  gewissermaßen naturnotwendigen Scheitern, das sich – und hierin liegt Claire Beyers große Kunstfertigkeit – zuerst an unscheinbaren Kleinigkeiten auftut. Zunächst unbeachtete  „Nebensächlichkeiten“ lassen Beziehungen zerbrechen, kleine Risse vertiefen sich, bis die Dinge auseinander fallen, Liebe in Feindseligkeit, Nähe in Distanz, das sinnliche Vermögen in Idiosynkrasie umschlägt.

 

Die sechste und letzte Geschichte schließlich führt alle fünf vorigen Erzählungen, ihre Motive und ihr Personal, zusammen, führt die synästhetische Programmatik zur Synthese. Ihr Titel, Der Denker, erinnert ans Hegel'sche Programm einer Aufhebung der Sinnlichkeit im Geist. Tatsächlich hängt hier alles mit allem und jeder mit jedem zusammen, verschlingen sich die Fäden der vorangegangen Erzählungen im Sinne romantischer Potenzierung. Doch die Hoffnung, dass aus dem sinnlichen Vermögen noch ein Sinn hervorgehen könnte, entpuppt sich – erwartungsgemäß, doch auf unerwartete Weise – als Illusion:  „Der Denker“ sitzt in der Klapse, die Sinne münden in Wahnsinn statt Sinn,  liegen schließlich, wie das Denken, im Koma. Aus ihm wird es, auch hier haben wir wieder eine märchenhafte Schlusswendung vor uns, zuletzt von der Musik erweckt. Wer darin eine Rehabilitation der romantischen Kunstreligion, des Vertrauens auf die Synästhesie erblicken wollte, ginge freilich fehl: Der auferstandene „Denker“ ist jener Entführer der Titelgeschichte, der die Reichweite des Geruchssinns im Menschenexperiment zu klären suchte - ein Mengele der Sinnlichkeit. Dass Musik ihn berührt, verweist nur auf den Ort, in dem sie gespielt wird: aufs Irrenhaus.

 

Wiederum haben wir es so auch in Rosenhain mit einer ernüchterten Romantik zu tun. Der Prozess der Desillusionierung  vollzieht sich hier aber nicht linear, sondern  auf der Basis der Reflexivität. Jede dieser kleinen Geschichten beleuchtet jede andere, was gleich mehrere Rezensenten – neben dem bereits zitierten Gert Scobel etwa Astrid Braun in der Stuttgarter Zeitung – zu  der zutreffenden Feststellung veranlasste, diese schmale Bändchen wolle mehrmals gelesen werden. Und zwar, möchte ich hinzufügen, mindestens zweimal kurz hinter einander, denn nur so ist das Rätsel, das dieses 130 Seiten schmale Bändchen dem Leser aufgibt – nein, nicht zu lösen, aber wenigstens rekonstruierbar. Die, im Vergleich zu den Rauken, ungleich höhere Komplexität der „Schreibaufgabe“ hat, dies sei nicht verschwiegen, ihren Preis: Kleine handwerkliche Schwächen – so eine trotz wechselnden Personals kaum variierende Melodie oder das gelegentlich abrupte Umkippen des epischen Präteritums in die erlebte Rede – die insgesamt weder die atmosphärische Dichte des Buches noch die literarische Leistung seiner Verfasserin schmälern,  schlüpften im Lektorat durch und wurden Claire Beyer von den einigen Rezensenten auch übel genommen.

 

Im jüngst erschienen Buch, das wiederum die Gattungsbezeichnung Roman trägt, steckt Claire Beyer ihre literarischen Ziele nochmals höher: Erstmals erprobt sie sich in einem längeren Text an den Tücken wechselnder Erzählperspektiven. Es sei gleich gesagt: Auch hier ist die Variation des Tonfalls gering, Claire Beyers Sprache bleibt die Sprache Claire Beyers, ihre Personen ähneln sich ihrem sprachlichen Duktus nach allemal. Dies für eine Schwäche zu halten, hieße aber zu glauben, Claire Beyers Erzählkunst ziele auf Psychologie. Sie tut es auch in Remis nicht, obwohl wir abermals eine – diesmal doppelte – Beziehungsgeschichte vor uns haben, in der die psychologische Stimmigkeit ebenso unabdingbar ist wie für die Erzählvorwürfe von Rauken und Rosenhain. Doch auch in Remis ist der Fluchtpunkt des Schreibens von Claire Beyer nicht mimetischer, sondern poetischer Natur. Eine auf Identifikation getrimmte Kritik kann das nicht schätzen, weshalb die großen Feuilletons bisher, ein knappes halbes Jahr nach Erscheinen des Buches, auch nicht eben sanft mit Claire Beyers drittem und bisher wohl ambitioniertestem Prosawerk – das ich wiederum eher eine lange Erzählung als einen Roman nennen würde – umgegangen ist: Während Meike Fessmann die Autorin in der Süddeutschen auf die Darstellung „menschlicher Schwächen“ und eine „lässige Lakonie“ festlegen will, wirft ihr Pia Reinacher in der NZZ vor, einerseits kryptisch, andererseits in aufdringlicher Deutlichkeit zu schreiben.  Ich möchte dem entgegentreten, darauf beharren, dass solche Einwände am künstlerischen Impetus der Texte Claire Beyers vorbeigehen – und zugleich einen anderen Einwand erheben.

 

Worum also geht es? Vorderhand um zwei Paare, ein altes, ein jüngeres, beide gescheitert. Das jüngere, Philipp und Kira, hat sich verloren, bevor es  sich finden konnte, seine Verbundenheit besteht in gegenseitigen Vorwürfen und routiniertem Belauern. Das ältere, Friedrich und Margarete, scheint vom Leben  geschlagen: Ihre Farm in Namibia ist verbrannt, beide sitzen heimatlos in Hamburg, Margarete hat sich in eine geistige Verwirrtheit geflüchtet, in der ihr ihre imaginierte, farbige Haushälterin Greta zur zombiehaften Partnerin  eines permanenten, schizoiden Selbstgesprächs wird. Diese Konstellation ist denn auch der Ansatzpunkt einer psychologisierenden Kritik, die Claire Beyer auf eine Haltung verpflichten will, die sie – wie sich nun zeigt, offenbar allein – seit den Rauken geschätzt hat: auf die Rolle der unsentimentalen Seelenerforscherin, welche die Erzählerin fraglos auch in Remis einnimmt.

 

Doch auf diesem Doppelbildnis zweier Paare liegt der Fluch der deutschen Geschichte. Ein Goldraub wird auf den  174 Seiten ihrer bisher nicht nur artistisch anspruchsvollsten, sondern auch längsten Erzählung zu seinem schauerromatischen Symbol, das Claire Beyer mit den beiden großen Margareten-Figuren der deutschen  Literatur auflädt: der vergewaltigten blonden Unschuld des Goethe'schen  Gretchens hie, der in den Bann der Shoah gezwungenen Margarete der Todesfuge Paul Celans da. Beide Bezugstexte bestimmen die Logik dieses kleinen  Romans, der auf den ersten Blick wie ein Psychokrimi funktioniert: Kira stiehlt – erneut ein Märchenmotiv – im Ferienhaus des älteren Paares einen Goldschatz, den, was nur Margaretes hirngespinstische Doppelgängerin Greta weiß, schon Margaretes Eltern im  Baltikum ermordeten Juden geraubt hatten, um ihrer Tochter eine „sichere Zukunft“ zu finanzieren, die dann in der aufgezwungenen Ehe mit Friedrich bestehen sollte. So frisst sich der Zivilisationsbruch namens Auschwitz ins Leben des  Romanpersonals, er bestimmt – ohne dass dieses es ahnt – sein Schicksal und  seelisches Unterfutter, diktiert auch den literarischen Horizont und das Fortschreiten der Erzählung bis ins Detail: Als Margarete mit der verunsicherten Kira in Tallinn auf Spurensuche geht, um nach möglichen rechtmäßigen Erben des geraubten Goldes zu forschen, findet sich nicht einmal ein Grab mehr, der  Friedhof ist zum Park geworden: Claire Beyers Margarete steht mit Paul Celan an  Sulamiths "Grab in den Lüften".

 

Claire Beyer leuchtet so auch mit Remis in viele, in die bei ihr fast schon gewohnten Abgründe – in die der deutschen Geschichte, die der Liebe und die der Poesie. Der Mut, den sie bereits in Rauken und in Rosenhain bewiesen hatte, wird diesmal geradezu zur Unerschrockenheit. Leicht hätte diese Geschichte in Kitsch entgleisten, der plot zur Plotte geraten können. Bei Claire Beyer wird sie zum Dokument einer nicht nur ernüchterten, sondern nachtschwarzen Romantik. Selbst der schöne Schein ist der erzählten Welt dieses schmalen Romans ausgetrieben, er hat sich in Umnachtung und Verwirrung verflüchtigt, in der  allein noch eine Ahnung der Wahrheit liegt. Ein Fatalismus von fast antiker Wucht steckt in diesem seiner Anlage, Konstruktion und Sprache nach doch wieder so arglos daher kommenden, kleinen großen Buch. Dieser Fatalismus freilich kehrt sich zuletzt gegen die bis dahin so unerbittliche Logik dieser Erzählung: Wenn Geschichte zum  fortwirkenden Verhängnis wird, unterminiert dies die Kategorie der Verantwortung. Auch in Remis. Während die Doppelfigur Margarete/Greta in ihrem Irr-Sinn überlebt, gehen Friedrich, Philipp und Kira mit der Ostseefähre „Estonia“ unter. Die allein überlebende Margarete ritzt sich die Zahl der bei der Schiffskatastrophe Ertrunkenen in den Unterarm.

 

In diesem Schlussbild, und das ist mein Einwand, überwältigt das Ästhetische die historische Wahrheit, auf die sie doch rekurriert: Selbststigmatisierung macht noch niemanden zum Opfer, 852 Tote sind keine sechs Millionen, ein noch so fürchterliches Unglück ist kein Massenmord und ein Grab am Meeresboden ist  keines "in den Lüften". Zwar sind die in ihm zusammenschießenden Bedeutungen, ähnlich wie in Rosenhain, das Produkt eines wirren Kopfes. Doch da es, an diesem Punkt angekommen, für den in diesen Kopf geschlüpften, personalen Erzählstil mangels anderer Überlebender auch kein Schlupfloch mehr gibt, das aus Margaretes buchstäblich verrückter Weltsicht herausführt, macht sich das Ende von Remis einen Symbolismus zu eigen, den die Erzählung eigentlich bereits erledigt hatte.

 

In diesem Fall, scheint mir, hat Claire Beyer also der Kunst zu sehr vertraut. Doch auch das beweist einmal mehr, welche unbedingte Risikobereitschaft diese Schriftstellerin auszeichnet, welche Fallstricke und Falltüren in ihren scheinbar schlichten Erzählungen lauern. Hubert Spiegel hat vollkommen recht: Claire Beyer ist eine „eine der stärksten und eigenwilligsten Autorinnen der Gegenwart“. Aus dem creative-writing-geschulten Fräuleinwunder, das gleichzeitig mit ihr in der deutschen Literatur ankam, ragt sie nicht nur ihres höheren Alters wegen bei weitem heraus.

Steffen Pross, Ludwigsburger Kreiszeitung

 

 

Kolumnen (Auswahl)

Der Prokurist

Manche Straßen vereint ein magischer Faden, der vom ersten bis zum letzten Haus gewebt zu sein scheint. Es sind nicht allein die genormten Größen der Dächer oder der Kamine, auch nicht die der Vorgärten. Es sind die Menschen, die in einer solchen Straße wohnen. Sie sind einander auf seltsame Weise ähnlich. Auch ich wohne in einer dieser Straßen, aber ich ähnle keinem von ihnen. Ich liege, Tag und Nacht.

An geraden Tagen drehen sie mich auf die rechte Seite, an ungeraden, auf die linke. Sonntags heben sie mich in den Stuhl, den sie vor das geöffnete Fenster schieben. Aber auch im Rollstuhl liege ich mehr, als dass ich sitze. So ist es eben. Das sage ich auch zum Arzt, der mir immer irgendwelche Kaspereien vorschlägt. Schluss damit.

Einige der jungen Kerle, die sie mir andauernd schicken, suchen permanent das Gespräch. Was können junge Männer einem alten Lahmen schon erzählen? Die einen raspeln Süßholz, bis es in den Ohren brennt und die anderen glauben, bloß weil ich nicht mehr vor sie hinstehen kann, dürften sie mit mir reden wie mit ihren Kumpanen. Ich will keine Kumpanei und kein Gesülze. Schluss damit, sage ich auch denen.

Sie sollen ihre Arbeit machen, wenn sie schon nicht zum Bund wollen! Trotzdem sind mir die Kerle noch immer lieber als die Schwestern. Mit ihrem ewigen: Wie-geht-es-uns-heute-Gehabe! Als ich drohte, die nächste, die es fragen würde, zu erwürgen, haben sie sich beschwert! Und den Pfarrer geschickt. Der ist aber bloß dagesessen und hat meine Zigaretten weggeraucht.

Auch die Nachbarn bleiben zum Glück längst weg, vor allem der Putzteufel vom Haus gegenüber. Ungefragt hat sie mit Staubtüchern rumgefuchtelt und mir die Bücher aus dem Regal gerissen. Da habe ich gebrüllt, bis die Wand wackelte. Wenn ich gekonnt hätte, damals wäre ich ausgezogen. Aber nicht ins Heim. Soweit bin ich noch nicht. Ich hock noch auf zu viel Geld. Ich war Prokurist. Der Herr Prokurist! Und so lange mein Kopf noch funktioniert, bleibt das auch so. Wenn der nachlassen sollte, hol ich die Tabletten raus.

Die hätten unsere Straße in Spinnenstraße umtaufen sollen. Sonntags sehe ich sie immer zur Kirche und zum Friedhof rennen. Die Scheinheiligen und die Betschwestern. Hannah, hat das gesagt, nicht nur einmal. Hannah!

Hat sich schwer getan, mich zurückzulassen. Hat nicht gejammert, nicht geklagt. Bis zum letzten Tag. Bei ihrer Beerdigung war die ganze Stadt da. Mich haben sie vor ihr offenes Grab geschoben, als wollten sie mir´s heimzahlen. Aber ich habe nichts gesagt. Hannah zuliebe. Sie war ein Engel, sagte der Pfarrer in meine Richtung. Als ob ich das nicht gewusst hätte. Hannah, habe ich sie gefragt, warum schonst du dich nicht? Sie gab mir zur Antwort: Weil du es auch nicht tust, nie schonst du dich. So hat sie mich gesehen.

In den Tagen nach ihrer Beerdigung kamen sie wie die Fliegen. Wollten alle an mein Geld. Von wegen Ehrenamt. Ich hab sie zum Teufel geschickt. Ich bin zwar gelähmt, aber nicht blöde. Da war keiner darunter, der ein paar Euros ausgeschlagen hätte. Anders als Hannah. Brillen hat sie gesammelt, Kleider und Decken. Wenn es irgendwo auf der Welt bebte, fuhr sie hin. Alte hat sie aus ihren Heimen geholt und in die Sonne gesetzt. Und für jeden Bazar Kuchen bis in die Nacht gebacken. Schluss damit. Hannah ist nicht mehr und andere wollte ich nicht um mich haben.

Irgendwann im Herbst ist der Putzteufel ausgezogen. Ich hab´s am Krach gehört. Von den neuen Mietern war zunächst nur das Kind zu sehen. Saß am Fenster wie ich. Sechs oder Sieben vielleicht. Saß da und las. Wenigstens nicht eines von den Schreihälsen. Mir reichte, was ich gesehen hatte, aber der Faulpelz von Zivi antwortete nicht auf mein Rufen. Vermutlich hatte er schon wieder seine Kopfhörer auf. Als er endlich kam, sagte ich ihm, dass das Kind am Fenster ein Mädchen war und im Rollstuhl saß. Die Frau, die wie die Kleine aussah, nur mit längeren Haaren, musste Mutter oder Schwester sein. Es war die Mutter, der Zivi wusste es genau.

Mit einem Mal hob das Kind ein Blatt hoch. Wedelte damit herum, bis die Mutter kam und es ihr aus der Hand nahm. Dann habe ich nichts mehr von ihr gesehen, bis sie plötzlich neben mir stand. Es war eine Zeichnung: Ein alter Mann, fast liegend im Rollstuhl, daneben ein blondes Mädchen mit einem Buch in der Hand. Kaum zu erkennen. Schlecht gemalt. Ich sagte es der Mutter geradeaus ins Gesicht. Sie aber lachte nur und hat mir die Zeichnung in die Hand gelegt. Ob ich aussehe, als würde ich zum Gespött taugen, wollte ich wissen. Es war als Rausschmiss gemeint. Sie aber sagte, wir besuchen sie in den nächsten Tagen!

Schon einen Tag später war sie mit dem Kind da. Es hatte wieder eine Zeichnung dabei und der Zivi hängte sie neben die Erste, und das in Sichthöhe. Die Frau stellte einen Korb auf den Boden, holte eine Kaffeekanne heraus und einen Kuchen, der übler aussah als er schmeckte. Mitten in der Woche setzte mich der Zivi in den Rollstuhl und schob mich an den Tisch. Seit Hannah nicht mehr lebt, war ich nicht mehr dort gesessen. Die Beiden kamen den ganzen Winter. Jedes mal mit einem anderen Kuchen. Der Zivi kam gar nicht mehr dazu, mich im Bett zu drehen. Irgendwann habe ich zugelassen, dass die Frau Bücher aus dem Regal nahm und mir daraus vorlas.

Ich habe es der Frau zwar nicht gesagt, gedacht aber habe ich es: Als sie und der Helfer die Rollstühle auf die Straße schoben, an den Vorgärten vorbei, bis zum Friedhof, bis zum Grab meiner Hannah, und die Kleine unter ihrer Decke einige Christrosen hervorholte, da hätte ich weinen können. Getan habe ich es dann, als ich alleine war.

Das wäre zuviel der Ehre gewesen. Und morgen ist auch noch ein Tag.

Stuttgarter Zeitung im November 2002 © Claire Beyer 

 

Der lautstarke Beitrag

Kein Ereignis zieht im persönlichen Leben mehr Aufmerksamkeit auf sich, als die Geburt eines Kindes. Meines kam 1967 auf die Welt und damit gerade rechtzeitig, um frisch und lautstark in die 68iger zu starten. Dem Kleinen war dabei egal, was auf der Strasse getrommelt wurde. Er probte seinen eigenen Protest: Vor allem, wenn es beim Trinken nicht zügig genug zuging, verschaffte er sich mit Nachdruck Gehör. Meine Nächte und Tage waren derart ausgefüllt, dass ich selbst die Landung Außerirdischer zur Nebensache erklärt hätte. Alles zog und zerrte an mir. Auf der einen Seite mein Sohn, auf der anderen täglich neue Ideen, ihn zu erziehen. Dazu die Lockrufe der Frauenrechtsbewegung und die geschlechterübergreifende Forderung nach Politisierung des gesamten Denkens. Nie mehr Hänsel und Gretel, nie mehr Aschenputtel. Überhaupt keine Märchen mehr. Es war eine Zeit, die nur das Fortissimo kannte. Mit einem Blick zurück, mit zweien nach vorne, versuchte ich irgendwie der Verunsicherung zu entwischen. Denn eines immerhin wusste ich: Es gibt keinen zweiten Versuch, ein kleines Wesen an das Leben heran zu führen. Ich agierte unsicher und meist ohne Hilfestellung. Die traditionelle Erziehung jedenfalls war zum Lehnstuhl geworden, den es auszumustern galt. Aber neuen Grenzen zu finden und zu setzten, führten mich oftmals selbst an den Rand der Möglichkeiten. Schon meine Entscheidung, auf den Laufstall zu verzichten, löste im Bekanntenkreis einen Aufschrei aus. Ich hielt tapfer durch, obwohl das inzwischen krabbelnde Kleinkind mit unerwarteter Systematik die unteren Ebenen der Vitrinen und Schränke auseinander nahm. Stolz diskutierte ich auf Kinderspielplätzen über Freiheit und ungebremsten Bewegungsdrang und hätte natürlich nie zugegeben, dass beides ein erhebliches Maß an Mehrarbeit erforderte. Und wirklich, es war mir egal. Denn in dieser ganzen Zeit des Chaos hatte ich etwas entdeckt und an mir selbst erfahren, das ich dankbar annahm und auf das ich nicht mehr verzichten wollte: Einen Hauch von Freiheit, der mit der Verringerung vieler Zwänge und Konventionen einherging. Es war, als würden im Tagebau starre Erze aus Köpfen heraus befördert, die dort seit Jahrhunderten gelagert hatten. Und ich genoss, dass mein Kind angstfreier aufwachsen konnte. Nicht antiautoritär, aber angstfreier.

Die Protestzüge, deren Inhalte und Ziele ich in der damaligen Zeit kaum verstand,  nahm ich zum Anlass eines zweiten Aufbruchs, zu einer Reise, deren Ziel damals nur unscharf aufleuchtete und für mich mit der Annäherung an die eigene Person endete. Von der Öffentlichkeit geradezu aufgefordert, fand ich den Mut, Zeit für mich in Anspruch zu nehmen. Ich wollte endlich meine Gedanken ohne schlechtes Gewissen zu Papier bringen, einfach schreiben. Meine Appelle an den Partner, sich mehr als üblich an der Beaufsichtigung und Erziehung unseres Kindes zu beteiligen, fruchteten, ja, wurden geradezu freudig angenommen. Wir profitierten von denen, die sich mit Transparenten in den Regen stellten. Das hatte ich erstaunt bemerkt und ich nahm Anteil an der Zeit, die getragen von neuen Rhythmen und Schlagworten, zu meiner wurde. Doch bevor ich mich ihr noch richtig anschließen konnte, radikalisierte sie sich und verpuffte in Gewalt und Terror.

Viele Jahre, über die zu schreiben wäre, sind seitdem vergangen. Das positive Signal hin zur Individualität ist leiser geworden, weil festgestellt werden muss, dass es in vielen Bereichen zur Egomanie aufgerufen hat. Und die grenzenlose Freiheit des Einzelnen hat den Preis, der in der Währung der Selbstverantwortung zu entrichten ist. Schon die Einnahme einer Vitaminpille erfordert die Lektüre eines seitenlangen Beipackzettels, der das gesamte Risiko dem „armen Schlucker“ überlässt. Zuständigkeit für den Nächsten sucht man mittlerweile am Besten in Gesetzesbüchern. Eine bittere Pille ist das, deren Nebenwirkung immer deutlicher ins Leben treten.

Und trotzdem, den Hauch der Freiheit spüre ich bis Heute.

 

Stuttgarter Zeitung im März 2008 © Claire Beyer 

 

Suche Basis                         

Das Mobilteil meines Telefons ist in die Jahre gekommen, der Aufdruck auf den Tasten kaum mehr zu lesen, abgegriffen, abgewählt, die Technik erschütternd veraltet, und überhaupt glänzt nichts mehr da, wo es glänzen sollte. Ich beschloss energisch und wohlwollend, dass ein Neues ins Haus muss. Schon der Gedanke beflügelte mich, ich studierte die 45 Doppelprospekte, die täglich ins Haus flattern, aufmerksam und las besonders eine Sache deutlich heraus: Fachleute sollten mich beraten. Weil alles passen muss. So ein Telefon am Ohr ist eine intime Sache, da sollte es nicht irgendein Gerät sein, ich muss das annehmen können, an mich drücken, wenn ich mich über einen Anruf freue und stabil genug muss es sein, um es auch mal in die Ecke, oder zumindest aufs Sofa knallen zu können, wenn das Gegenteil der Fall ist. Und dann muss die Bedienung einleuchtend einfach sein. Ich habe nicht vor, damit vom Sofa aus meine Microwelle in Gang setzen zu können oder das Badewasser einlaufen zu lassen. Nur Telefonieren. Mit einer möglichst hübschen Melodie auf nette Anrufe hingewiesen werden. Vielleicht noch ein Anrufbeantworter, wenn’s nicht zu schwierig wird mund ich mich bei der Ansage nicht pausenlos verspreche. So ein schönes, neues, glänzendes Telefon möchte ich gerne haben. Ich muss nicht weit gehen. Fast an jedem Ortsrand steht ein Multi-Technik-Center,  und sicherlich gibt es dort jede Menge kompetent beratendes Personal, das auf meine Wünsche freudig eingeht.

Aber dann stehe ich erst mal in der Schlange, bis ich merke, die wollen alle Handys. Im Stockwerk tiefer werde ich schließlich fündig. Stationen. Jawohl, genau das suche ich. Und eine aufmerksame Verkäuferin wird auch auf mich aufmerksam, nachdem ich ihr fast auf die Zehen trete.

Ich erfahre, dass sich die Geräte in erster Linie vom Gehäuse und deren Farben voneinander unterscheiden. Damit ist mir schon sehr geholfen, zumal sie noch betont, dass „die alle irgendwie gleich sind, nur vom Preis her halt nicht!“ Die Technischen Daten stünden auf den Kartons. Wenn ich noch Fragen hätte…

Nein, hatte ich nicht. Ich hielt mir alles an das Ohr, was sich von der Station bewegen ließ und entschied mich nach ein paar Stunden spontan für ein hübsches schwarz-glänzendes Ding, das sich wohlig anfühlte. Meine Güte, alle kann ich schließlich nicht mitnehmen und auf die Technik, die bei allen ja doch gleichwertig war, wie die kundige Verkäuferin mir glaubhaft versicherte, brauchte ich nicht zu achten.

Natürlich habe ich es gleich ausgepackt und angeschlossen, ratzfatz das alte Teil ausgesteckt und die neuen, fein greifenden Steckerchen reingedrückt. Wunderbar. Es hat gleich funktioniert. Datum und Uhrzeit, Anrufbeantworter (mit vorgegebener, garantiert fehlerfreier, neutraler Ansage) installiert und dann ging es nur noch um die melodische Tonfolge, die mir die Anrufe präsentieren sollte. Neben Salsa, dem Entertainer bot mir das Gerät noch Bach und Brahms an. Aber da schüttelte es mich. Bach und Brahms gehören in den Konzertsaal oder auf eine CD. Ald Rufton sind diese Stücke nicht mehr als eine weitere Verunglimpfung der alten Meister! Nein, da blieb ich hart, obwohl der Bach…

Ich wählte etwas Neutrales, ein leiser Ton, der dezent war im Lauterwerden und selbst bei höchster Beanspruchung der oberen Laute noch nicht die Nachbarn aus ihren Türen lockte. Gefiel mir gut und ich rief mich gleich ein paar Mal mit meinem Handy an.

Gegen später, als das neue Telefon und ich etwas zur Ruhe gekommen waren, fiel mein Blick eher zufällig auf das alte, mausgraue. Es lag still da, halbtot, weil ohne Kabel, und dennoch stand eine Nachricht auf dem schon fast blind gewordenen Display: Suche Basis. Oje, mir schossen die Tränen nur so in die Augen. Suche Basis! Das klang wie: Nach Hause telefonieren! ET und all seine Schicksalsgenossinnen und –genossen traten vor mir auf. Suche Basis. Wie soll das einer verkraften! Ich nahm das Mobilteil auf, hielt es mit beiden Händen und dann tat ich, was ich hätte nicht tun dürfen: Ich hielt es an mein Ohr. Und plötzlich waren sie da, die guten Nachrichten, die ich damit gehört hatte, die nachdenklichen Stunden, die ich damit verbracht hatte, das Wegbegleitersyndrom breitete sich aus, vom Bauch bis zum Herzen und wieder zurück. Sehenden Auges war ich in die Nostalgiefalle getappt. Was sein muss, muss sein. Der fein greifende Stecker des Neuen raus, die ausgeleierte Version des Alten rein und dann das Ganze geputzt.

Und siehe da: Es glänzte wieder, die abgegriffenen Zahlen ließen sich leicht mit einem farbechten Stift nachziehen und dem blinden Display verpasste ich eine besonders ausführliche Behandlung, was sich in einer wunderbaren Transparenz niederschlug.  Außerdem – die alte Melodie war mir viel vertrauter und wer weiß, ob ich auf das diskrete Läuten des Neuen überhaupt reagiert hätte!

Beim Verpacken der neuen Anlage achtete ich allerdings ganz bewusst darauf, nicht auf die Anzeige zu schauen – womöglich hätte da auch gestanden: Suche Basis. Und das hätte ich dann nicht mehr verkraftet, wo ich doch nur über einen Anschluss verfüge.

 

 

Stuttgarter Zeitung im Oktober 2005 © Claire Beyer